GESCHICHTE DES ROSENKRANZES

Am Beginn christlichen Betens steht die Sehnsucht nach der Begegnung mit dem Geheimnis, das wir Gott nennen. "Auf Dich hin hast Du uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir, oh Gott", bekennt der hl. Augustinus. Es ist die Unruhe, die entsteht, wenn wir uns mit weniger als Gott zufrieden geben und die zugleich die Sehnsucht nach dem "Mehr" in unserem Leben weckt.

Von frühchristlichen Eremiten ("Wüstenvätern") und ersten Mönchsgemeinschaften ist seit dem 3. Jahrhundert das sog. Wiederholungsgebet bezeugt. Dabei wurden einzelne Worte oder Sätze aus der Bibel meditativ wiederholt. Durch dieses "Wiederkauen" der heiligen Worte (ruminatio) sollten die Glaubensgeheimnisse betrachtend verheutigt-erinnert werden (memoria) und immer tiefer vom Kopf ins Herz, vom Verstand in die innere Personmitte gelangen. Ziel war die Vereinigung mit Gott im täglichen Leben.

In den bald entstehenden Klöstern übernehmen frühchristliche Mönche die jüdische Tradition des Psalmengebets. Dabei werden alle 150 Psalmen gebetet, Christus Hymnen und vor allem das Vaterunser. Eine frühe Form des Stundengebets entsteht, in dem sich Klostergemeinschaften mehrmals am Tag zum gemeinsamen Gebet zusammen finden.

Ersatz für das Psalmengebet

Im 11. Jahrhundert wird das Stundengebet für alle Kleriker verpflichtend. Laienmönche ("Konversen"), die im Kloster für handwerkliche Arbeiten zuständig sind und weder lesen noch schreiben können, haben statt des Stundengebets Ersatzgebete zu verrichten. Diese Ersatzgebete haben eine Gemeinsamkeit: Sie müssen auswendig gebetet werden, weil der Beter ja nicht lesen kann. Es handelt sich bei diesen Gebeten daher stets um christliche Grundgebete, die jedem getauften Christen bekannt sin

Zunächst das Vater Unser, das mit Hilfe einer Gebetsschnur ("Paternosterschnur") in Anlehnung an das Psalmengebet bis zu 150 Mal gebetet wird. Im 11. Jahrhundert, der beginnenden Blütezeit der Marienminne, wird das Vater Unser zunehmend durch das Ave Maria ergänzt oder überhaupt ersetzt. Im 11. Jahrhundert war das Ave Maria bereits ein offizieller Bestandteil des Stundengebets der Kleriker.

Das Ave Maria

Das Ave Maria ("Gegrüßet seist du, Maria") ist ein biblisches Gebet. Es ist dreigliedrig aufgebaut aus (1.) dem Gruß des Erzengels Gabriel an Maria bei der Verkündigung des Herrn, (2.) den an Maria gerichteten Lobpreis Elisabeths, der Cousine Marias und späteren Mutter Johannes des Täufers (vgl. Lk 1,28 / Lk 1,42) und (3.) dem Bittgebet, das im frühen 16. Jahrhundert als Coda hinzugefügt wurde. 

1. Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.
2. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.
3. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.

Das Ave Maria beginnt mit der Verehrung der Mutter Gottes und endet im Lobpreis Christi. Diese Grundbewegung auf Christus hin ist ganz wesentlich für die marianische Spiritualität und das Rosenkranz Gebet im besonderen, sodass Johannes Paul II. in guter Tradition der Kirche den Rosenkranz als christologisches Gebet bezeichnen kann: "Der Rosenkranz ist nichts anderes als die Betrachtung des Antlitz Christi mit den Augen der Maria" (JP II, Rosarium Virginis Mariae).

Das Ave Maria wird, damals noch ohne Bittgebet, begeistert aufgenommen und - forciert durch den Kartäuser Adolph von Essen - als "Ave Fünfziger" (50 Ave Maria) oder "Marianpsalter" (150 Ave Maria) nicht nur von Konversen (Laienmönchen), sondern bald auch von Laienchristen aus dem Volk gebetet.

Clausulae zur Betrachtung

Damit liegt bereits ein wichtiger Bestandteil des Rosenkranzes vor, wie er auch heute noch gebetet wird. Was den Ave Fünfziger aber noch vom modernen Rosenkranz unterscheidet, ist die geistliche Betrachtung (lat. meditatio) des Lebens Jesu. Paul VI. wird dazu 1974 den oft zitierten Satz schreiben: "Ohne Betrachtung ist der Rosenkranz wie ein Körper ohne Seele" (Marialis Cultus).

Die Betrachtung wird formal durch Hinzufügung von Schlusssätzen (Clausulae) umgesetzt. Jedem Ave Maria wird nach dem Wort "Jesus" ein Satz angehängt, der während des wiederholenden Gebets innerlich betrachtet wird. 

Ein Beispiel aus dem heutigen Rosenkranz mit abschließendem Bittgebet (4). Die Clausula (3) ist zur Verdeutlichung kursiv gedruckt:

1. Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.
2. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist Frucht deines Leibes: Jesus...
3. ...der uns den Heiligen Geist gesandt hat.
4. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen

Die Klauseln der Zisterzienserinnen

Wer die Clausulae zuerst dem Ave Maria angefügt hat, wurde bis vor wenigen Jahren mit der Nennung des Trierer Kartäusers Dominikus von Preußen beantwortet. Heute wissen wir, dass bereits im späten 13. Jhd, also über 100 Jahre zuvor, Zisterzienserinnen aus dem Kloster St. Thomas an der Kryll ein deratiges Gebet kannten. In 90 Klauseln wird darin die Heilsgeschichte betrachtet, die bemerkenswerter Weise schon mit der Erschaffung der Welt einsetzt. Ob die um 1300 entstandene Handschrift selbst auf eine ältere Vorlage zurückgreift, konnte von der Forschung bislang nicht nachgewiesen werden.

Clausulae der Zisterzienserinnen St. Thomas um 1300, Quelle: Landesarchiv
Clausulae der Zisterzienserinnen St. Thomas um 1300, Quelle: Landesarchiv
Clausulae des Dominikus von Preußen um 1410, Quelle: Wikipedia
Clausulae des Dominikus von Preußen um 1410, Quelle: Wikipedia

Dominikus von Preußen, Kartäuser

Über 100 Jahre später verfasste der Novize Dominikus von Preußen aus der Kartause St. Alban bei Trier eigene Betrachtungssätze. Er tat dies, so berichtet er in seiner Autobiographie, um beim Beten des Ave Fünfzigers das Leben Jesu besser betrachten zu können. Die Betrachtung des Lebens Jesu wurde bei den Kartäusern bereits längere Zeit praktiziert. 

Die Methode des jungen Novizen fand in seiner Kartause großen Anklang. Sein Prior Adolph von Essen beauftragte Dominikus deshalb, Abschriften seiner Klauseln zu erstellen. Beide verbreiteten die Klauseln dann in zahlreichen Klöstern ihres Ordens. Bis zum Tod des Dominikus im Jahre 1460 zählte man bereits über 1000 Kopien. 

Aus seiner Autobiographie wissen wir, dass Dominikus dachte, gleichsam der "Urheber" der neuen Gebetsmethode zu sein. Die rund hundert Jahre älteren Klauseln aus St. Thomas dürften ihm unbekannt gewesen sein. Was insofern erstaunlich ist, weil die Kartause St. Alban kaum 60km vom Kloster St. Thomas entfernt liegt. 

Ob die Klauseln aus St. Thomas weiter verbreitet waren als bisher angenommen, etwa in anderen Niederlassungen des Zisterzienser Ordens, konnte von der Forschung bislang nicht nachgewiesen werden. In jedem Fall erfuhren die Klauseln des Dominikus eine größere Breitenwirkung als jene der Zisterzienserinnen. So auch in Benediktinerklöstern des süddeutschen Sprachraums; dort wurden sie durch einen Benediktiner verbreitet, der zuvor Kartäuser gewesen war.

Rosenkranz Bruderschaften

Große Verbreitung unter Laienchristen fand der Rosenkranz aber erst durch die Gründung von sogenannten Rosenkranz Bruderschaften. Sie wurden ab Ende des 15. Jahrhunderts von den Dominikanern (Predigerorden) gegründet. Sie entfalteten ein ausgesprochen dynamisches Apostolat, nachdem ihr Ordensbruder Alanus de Rupe die fromme aber unhistorische Legende in Umlauf brachte, ihr Gründer, der hl. Dominikus von Guzmán - nicht: Dominikus von Preußen - habe den Rosenkranz direkt von der Jungfrau Maria empfangen. Die Legende fand selbst in päpstliche Dokumente Eingang und wurde auf Gemälden an Rosenkranz Altären dargestellt. Erst mit fortschreitender Forschung zur Geschichte des Rosenkranzes (v.a. Esser OP, Klinkhammer SJ) wurde sie schliesslich aufgegeben.

Der Erfolg der Bruderschaften hatte verschiedene Gründe. Einerseits weil der Kartäuser Rosenkranz mit seinen bis zu 150 Schlusssätzen zu viele Clausulae enthielt, um sie ohne Weiteres auswendig beten zu können. Sie mussten daher vom Blatt ablesen werden. Weil der einfache Laienchrist aber nicht lesen konnte, blieb der Kartäuser Rosenkranz weitgehend eine Praxis der Klosterleute.

Die Bruderschaften änderten das, indem sie die Clausulae allmählich auf 15 kürzten. Diese Clausulae sind (mit zwei Ausnahmen) mit unseren freudenreichen, schmerzhaften und glorreichen Geheimnissen identisch. So fanden auch einfache, des Lesens unkundige Gläubige Zugang zum Rosenkranz Gebet. Rasch entwickelte es sich zu einem beliebten Gebet des Volkes.

Der Eintritt in die Bruderschaft war niederschwellig ausgelegt und mit keinerlei Kosten verbunden. Man hatte sich nur in das Bruderschaftsbuch einzutragen, bestimmte Lebensregeln zu erfüllen und jede Woche 150 Ave und 15 Vater Unser zu beten. Und selbst das wurde bei Unterlassung nicht mit Buße belegt.

In den Bruderschaften bestanden grundsätzlich keine Standesdünkel, gerade einfache und arme Leute traten deshalb zu Tausenden den Bruderschaften bei. Sie standen dort als Beter gleichberechtigt neben reichen Bürgern und Adeligen. Der Erfolg der Dominikaner wurde auch durch den Umstand befördert, dass die Kontrolle der Bruderschaften lange Zeit das Privileg ihres Ordens war.

Rückblickend macht vielleicht erst der historische Kontext die fromme Legende auch für die heutige Zeit wieder lesbar. Jedenfalls wenn man toleriert, dass die Darstellung des hl. Dominikus ein ins Bild setzen seines Ordens bedeutet. Diese Lesart setzt dann die geschichtliche Tatsache ins Bild, dass der Rosenkranz tatsächlich erst über die vom Dominikanerorden gegründeten Bruderschaften im breiten Glaubensvolk angekommen ist. 

Die lichtreichen Geheimnisse

Eine Entwicklung jüngeren Datums ist die Einführung der "Lichtreichen Geheimnisse" im Jahre 2002. Sie wurden von Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika Rosarium Virginis Mariae vorgestellt. Durch sie wird der Rosenkranz zu einer durchgängigen Leben Jesu Betrachtung, in der nun auch Jesu Leben und Wirken mit betrachtet werden.

Im Licht der Geschichte des Rosenkranzes sind die "neuen" Geheimnisse aber gar nicht so neu. Die Betrachtung des Lebens und Wirkens Jesu war schon in den Klauseln des Dominikus von Preußen um 1410 ein wesentlicher Bestandteil der Betrachtung, sodass gesagt werden kann, dass der Rosenkranz erst mit den lichtreichen Geheimnissen zu seiner endgültigen Form, ja in gewisser Hinsicht zu sich selbst gefunden hat.

Maria und die Ökumene

Im Rosenkranz betrachten wir das Leben Jesu, und tun es damit seiner Mutter gleich, die von seiner Geburt an nicht von seiner Seite gewichen ist: "Maria aber bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach" (vgl. Lk 2,19). Diese marianische Grundhaltung, die sich in Glaube, Hoffnung und Liebe immer mehr in die Gemeinschaft mit Gott entfalten will, ist auch die Grundhaltung jedes einzelnen Christen – über alle konfessionellen Grenzen hinaus.

Buch zum Rosenkranz

Eine ausführliche und detailreiche Darstellung zur Geschichte und Praxis des Rosenkranz Gebets finden Sie in diesem Buch von Pater Benno Mikocki und Josef Bauer. Das Buch gilt als Standardwerk und verarbeitet alle wichtigen Ergebnisse neuerer Forschung anspruchsvoll in zugleich gut lesbarer Weise. Für eine gesunde theologische Erschließung des Rosenkranz Gebets zeichnet der bekannte Franziskaner P. Benno Mikocki OFM, der bis 2014 Leiter der weltweit größten Rosenkranz Gebetsgemeinschaft RSK war. Er gibt auch praktische Tipps und Anregungen, der auch erfahrene Beter noch etwas Neues abgewinnen können. 


Linktipps

Rosarium Virginis Mariae von Papst Johannes Paul II. Apostolisches Schreiben über den Rosenkranz. Letztes großes päpstliches Schreiben zum Rosenkranz, in dem der Papst die lichtreichen Geheimnisse vorstellt. Er schliesst damit die Lücke zu einer vollständigen Leben Jesu Betrachtung. Mit Marialis Cultus von Paul VI. sicher das wichtigste Schreiben zum Rosenkranz Gebet. Es lohnt sich, das Schreiben betrachtend zu lesen, weil es viele fruchtbare Gedanken für die persönliche Praxis enthält. 

Marialis Cultus Mahnschreiben von Papst Paul VI. über eine zeitgemäße Marienfrömmigkeit. Das apostolische Schreiben entstand kurz nach dem II. Vatikanischen Konzil und ist noch heute aktuell. Am Ende schreibt der Papst ausführlich über das Rosenkranz Gebet. Aus diesem Schreiben stammt sein viel zitierter Satz: "Ohne Betrachtung ist der Rosenkranz wie ein Körper ohne Seele."